Jeder entscheidet selbst
Für Betriebssicherheit setzt auch das neue Seilbahnrecht auf lokale Erfahrung und Verantwortung
Das Sesselbahnunglück auf der Kleinen Scheidegg wirft Fragen auf: Im technischen Bereich setzt das Seilbahnrecht detaillierte Normen. Beim Wetterrisiko liegt die Entscheidungsverantwortung bei den einzelnen «Maschinisten».
Normalbetrieb, bis die erste Sturmböe kommt: Auf der Kleinen Scheidegg reichte die Zeit zur sicheren Evakuierung des Sesselliftes nicht mehr.
 
Sechs Stunden bevor am 3. Januar auf der Kleinen Scheidegg das Seil der Sesselbahn Fallboden aus den Rollen gerissen wurde und in aufprallenden Sesseln ein Mann tödlich und eine Frau schwer verletzt wurden, hatte der nationale Wetterdienst Meteo Schweiz eine ausserordentliche Föhnsturmwarnung publiziert (siehe Artikel unten). Nicht nur im Jungfraugebiet, sondern fast überall in der Schweiz haben Bergbahnen an diesem Tag ihren Betrieb aber trotzdem normal aufgenommen. Erst als der «Guggiföhn» gegen Mittag in lokalen Windmessanlagen Alarm auslöste, versuchte man – zu spät – die Skifahrer zur Bergstation und in Sicherheit zu bringen.
Keine Pflicht, Betrieb einzustellen
Ursachen und Verantwortlichkeiten in diesem Unglück sind Gegenstand von Untersuchungen. Bereits klar ist aber, dass die Bahnen nicht verpflichtet waren, allein aufgrund der Sturmwarnung von Meteo Schweiz ihre Seilbahnen im Gefahrenbereich abzuschalten. Zwar hat das seit einem Jahr geltende Seilbahngesetz in drei Bereichen markante Neuerungen gebracht:
Die Planung neuer Bahnen ist weniger kompliziert: Konzessionserteilung und Plangenehmigung sind in einem Verfahren vereint. Das kantonale Baubewilligungsverfahren entfällt.
Für alle Seilbahnen wird eine umfassende Sorgfaltspflicht statuiert. Auch für früher weniger gesicherte «Bauern- und Arbeiterbähnli» gelten die gleichen grundsätzlichen Sicherheitsanforderungen.
Angesichts der europaweiten Konzentration bei den Bahnherstellern wendet die Schweiz für neue Anlagen die auf der EU-Seilbahnrichtlinie 2000/9 abgestützten CEN-Normen an.
Jede Bahn selbst verantwortlich
Aber in Bezug auf die betriebliche Sicherheit verzichtet auch das neue Recht auf generelle Regeln. Im Artikel 18 des Seilbahngesetzes heisst es lapidar: «Der Inhaber der Betriebsbewilligung ist für die Sicherheit des Betriebs verantwortlich.» Im technischen Bereich wird diese Pflicht durch minutiöse Normen konkretisiert: Der grösste Teil der 160 Seiten starken Sesselbahnverordnung, die für Anlagen gilt, welche nach altem Recht gebaut worden waren, und auch die EU-Vorschriften betreffen Seile, Rollen, Seilfänger, Kabinen, Bremsen und Masten.
Bei der betrieblichen Organisation dagegen bleibt Bahnbetreibern weitgehende Freiheit und Verantwortung. Man setzt auf lokale Erfahrung und persönliche Verantwortung. Konkrete Vorschriften sind rar und punktuell: In Artikel 48 der Seilbahnverordnung heisst es etwa, Anlagen dürften nur betrieben werden, «wenn es die Witterungsverhältnisse erlauben». Die Sesselbahnverordnung schreibt vor, pro Anlage müsse ein mindestens 20-jähriger «Maschinist» anwesend sein. Pro Station ein mindestens 18-jähriger Mitarbeiter. Der technische Leiter müsse während der Betriebszeit innert einer Stunde vor Ort sein können.
Lokale Windmessung
Für die Überwachung der Windsituation schreibt die Verordnung «Windmesser an einer oder mehreren dem Wind besonders ausgesetzten Stellen» vor. Die Rede ist von «Windwarnung» und «Windalarm». Bei welchen Windgeschwindigkeiten diese Signale ausgelöst werden und was dann zu tun ist, wird aber offen gelassen. Die Verordnung enthält eine detaillierte technische Checkliste, die täglich bei Betriebsbeginn durchzuarbeiten ist. Nirgendwo aufgeführt ist dabei eine Informationspflicht über Wetter- und Windprognosen.
Jede Bahn ist ein Unikat
Fachleute begründen das Fehlen von generell geltenden, konkreten Vorschriften damit, dass die Verhältnisse bei jeder Anlage anders seien. Jede Bahn ist ein «Unikat», sagt Reto Canale, der als Direktor des interkantonalen Konkordats für Seilbahnen und Skilifte (IKSS) für Bewilligung und Aufsicht von rund 2500 kleineren Anlagen (Seilbahnen mit weniger als acht Passagieren pro Richtung und allen Skiliften des Landes) verantwortlich ist.
Auch Renzo Pesciallo, Seilbahnexperte beim Verband Seilbahnen Schweiz, betont bezüglich Windgefahren lokale Eigenarten jeder Anlage. Eine generelle Stilllegungspflicht für Windgeschwindigkeiten von beispielsweise über 60 Stundenkilometern sei nicht sinnvoll. Je nach Exposition der Bahn sei auch die Windrichtung für die Gefährdung entscheidend. Das sei der Grund, weshalb das Seilbahnrecht keine fixen Grenzwerte für Bahnstilllegungen festlege. Zentral für die Sicherheit seien anlagespezifische Regeln in den Betriebsreglementen. Eine amtliche Verpflichtung, Wetterprognosen und Unwetterwarnungen zu konsultieren, brauche es nicht, erklärt ein Berner Oberländer Bahnchef: «Das ist ja selbstverständlich.»
Das Seilbahnrecht verpflichtet alle Bahnen, solche Reglemente aufzustellen. Sie müssen den Aufsichtsbehörden, für die grösseren Bahnen dem Bundesamt für Verkehr (BAV) und für die anderen dem IKSS, zur Genehmigung vorgelegt werden. Auch diese Reglemente sind aber wenig konkret. Bei älteren Bahnen stützen sie sich auf ein vom BAV vorgelegtes Musterreglement. Bei neuen auf die Norm SN-EN 12397 der EU.
Schwarzer Peter beim Maschinisten
Das BAV-Musterreglement weist das Personal für den «Betrieb bei besonderen Verhältnissen» an, «nötigenfalls die Fahrgeschwindigkeit herabzusetzen». «Bei Betriebsgefährdung durch Gewitter, Sturm oder Lawinen sei «der Betrieb einzustellen». Die Interpretation der Gefährdungslagen fällt aber praktisch weitgehend in die Verantwortung der bei jeder Bahn diensthabenden Maschinisten.
«Mit dem Fernglas beobachten»
Auch die EU scheut sich, im Kräftefeld zwischen Sicherheitsbedürfnis, wirtschaftlichen Interessen der Bahnen und Wünschen von Kunden, die für Pauschalausweise bezahlt haben, klare Grenzen zu setzen.
Die Norm SN-EN12397 empfiehlt, «bei Windverhältnissen, bei denen ein Betrieb noch zulässig ist, aber Windböen oder eine Zunahme der Windgeschwindigkeit zu befürchten ist, die Strecke auch mittels Fernglas häufiger zu beobachten, um dem Maschinisten Informationen zu geben».
Betriebsreglement «privat»
Manche Bahngesellschaften wollen aus unerfindlichen Gründen keinen Einblick in ihre Betriebsreglemente geben. Man betrachte das als «Privatangelegenheit», sagt der Verantwortliche einer Berner Bahngruppe dem «Bund». Die vom Unglück vom 3. Januar betroffenen Jungfraubahnen sind da professionell: Man legt Dienst- und Betriebsvorschriften, ein Betriebskonzept und ein Organisationsschema für das Verhalten bei extremen Witterungseinflüssen vor, die zeigen, dass man mindestens auf dem Papier auch für Extremwindsituationen vorbereitet war.
Alles nach den Regeln
Artikel 3.2 der Betriebsvorschrift für eine kuppelbare Sesselbahn zeigt, welche Regeln am Föhntag vom 3. Januar bei den Jungfraubahnen galten: «Bei Windverhältnissen, bei denen noch ein Betrieb zulässig ist, aber Windböen oder eine Zunahme der Windstärke zu befürchten ist, müssen die Betriebsbediensteten die Fahrgeschwindigkeit vermindern. Zudem ist die Strecke visuell zu überwachen und dem Maschinisten die entsprechenden Informationen zu geben.
Wenn der Wind den Höchstwert von 60 Stundenkilometern erreicht oder zu gefährlichen Auspendelungen der Fahrzeuge führt, ist der Betrieb einzustellen. Die Fahrzeuge müssen unter Anwendung der Vorsichtsmassnahmen zurück in die Garage geführt werden.»
So wie es heute aussieht, hat der Maschinist sich an diese Vorschriften gehalten. Die Frage ist nur, ob die Regel richtig ist, bei einer offiziellen Extremwetterwarnung mit der Evakuierung zu warten, bis die Böen da sind.
Der Bund, Richard Aschinger [11.01.08]
http://www.espace.ch/artikel_467548.html