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Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 21:30
von Stefan Hörmann
Hallo,
ja, sie werden unterschätzt. Siehe die beiden toten Stormchaser in den USA. Aber auch ich hatte diese Woche mein AHA-Erlebnis.
Weit vor dem Zellkern und aus gigantischen Mamatus gab es zwei massive Entladungen in der Nähe meinen Beobachtungsstandortes. Eine Entladung schlug ein, als ich gerade auf freiem Feld stand, in nur etwa 3-5km Entfernung! Recherchen haben ergeben (Annäherung anhand Radar und Blitz), dass die Entladungen etwa 15km außerhalb des Zellkerns und weit mehr als 10km weg vom Niederschlagsbereich stattgefunden haben.
Demnach hätte man extrem weiträumig im Warnsektor alle Outdoor-Veranstaltungen absagen müssen. Einsetzende Konvektion kann im Extremfall innert 30-60 Minuten zu einer hefigen Gewittersituation führen. Dass es irgendwo immer jemanden erwischt, das ist Natur. Wir sollten bei all der Tragig nicht vergessen: Die Natur gibt und sie nimmt Leben.
Wenn wir es könnten, würden wir uns noch gegen den Tod versichern. Wer lebt wird sterben. Als verantwortlicher Veranstalter trägt man immer ein Risoko. Jeder will sich absichern. Sponsoren gegen den Veranstalter, Veranstalter gegen Wetterdienste und am Ende der Kette steht die Versicherung, zu allerletzt der Mensch, der sich durch den Versicherungswahn in Sicherheit wähnt.
Bei aufziehendem Gewitter hat sich der Mensch schon seit jeher verkrochen. Diesen Instinkt hat jedes Wirbeltier. In der heutigen Informationsgesellschaft wird durch eine stetige Überinformation die Abstumpfung (Desinformation) gegenüber Naturgefahren immer stärker und wenn es mal wieder wo kracht wird gleich wieder herumgeplärt, dass man das verhindern hätte können. Am allerlautesten poltern jene, die hinterher dies perfekt hätten verhindern können. Bitte, erinnert Euch an Eure letzte Fehlprognose die nur Dich betroffen hat.
Die Natur gibt und sie nimmt Leben.
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 21:58
von Federwolke
Stefan Hörmann hat geschrieben:In der heutigen Informationsgesellschaft wird durch eine stetige Überinformation die Abstumpfung (Desinformation) gegenüber Naturgefahren immer stärker und wenn es mal wieder wo kracht wird gleich wieder herumgeplärt, dass man das verhindern hätte können. Am allerlautesten poltern jene, die hinterher dies perfekt hätten verhindern können. Bitte, erinnert Euch an Eure letzte Fehlprognose die nur Dich betroffen hat.
Die Natur gibt und sie nimmt Leben.
Diese fatalistische Haltung, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dem Mittelalter, wundert mich aus der Tastatur eines Wetterdienstleisters doch sehr. Wenn die Kommentare von Laien in diese Kerbe hauen, dass die Natur doch immer gewinnt und das Wetter unberechenbar sei etc blabla, dann kann ich das ja zu einem Teil noch verstehen - nicht jeder verfügt über die entsprechende Bildung. Im Grunde genommen ist diese Haltung aber ein Schlag ins Gesicht all jener Forscher, die in den letzten Jahren das Wissen über Schwergewitter enorm vorangebracht und recht erfolgreiche Warnsysteme entwickelt haben. Dass ein Restrisiko nicht zu beseitigen ist und dass es unvorhersehbare Entwicklungen geben kann, bestreitet niemand. Aber wir sprechen hier im Fall von Biel geradezu von einer Bilderbuch-Warnsituation, bei der kaum ein Wetterdienst etwas falsch machen konnte und auch nicht falsch gemacht hat. Das "Geplär", wie du es nennst, richtet sich gegen unprofessionelle Organisatoren, die noch heute jegliche fachliche Kompetenz negieren und sich in Ausreden flüchten. Unter anderem die Ausrede, dass eben die Natur stärker sei.
Mit derselben Argumentation könnte man auch die medizinische Forschung einstellen, Ärzte und Spitäler abschaffen und die kranken Leute ihrem Schicksal überlassen - schliesslich gibt die Natur Leben und nimmt sie auch wieder. Das Geplärr von jenen, die dann sagen mit einem kleinen Eingriff hätte man den Tod durch z.B. eine Blinddarmentzündung verhindern können, möchte ich dann hören...
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 22:10
von Uwe/Eschlikon
Hallo
ja, sie werden unterschätzt. Siehe die beiden toten Stormchaser in den USA.
@Stefan
Kommt immer drauf an, ob man alleine / zu zweit unterwegs ist, oder man Führer/Leiter einer Gruppe oder Menge von Leuten ist, für die man die Verantwortung trägt, und die sich einem auch anvertrauen!
Ich war schon über 500x auf dem Gipfel eines Berges, von 2000-4000m, und habe schon manch brenzlige Situation erlebt: Gewitter, Sturm, Schnee oder andere Naturgefahren. Bin schon herab fallenden Steinen ausgewichen, bin 5m tief kopfüber runter gestürzt, bin auf einem steilen Schneefeld ausgerutscht, habe mehrfach Blitzeinschläge unter 50m Entfernung erlebt und bin schon in eine Nassschneelawine geraten. Habe alles ausser Schrammen, Schnittwunden, Flecken und Schrecken überlebt. Glück gehabt. Ja, aber ich habe meist auch richtig reagiert. Spätestens beim 2x. Natürlich, es kann auch kein 2.Mal geben. Bin ich allein unterwegs, muss ich mein Risiko selber einschätzen und abwägen. Wie ein Ueli Steck, der in 2,5 Std die Eigernordwand hoch rennt. Stürzt er ab, gibt es eine Kurzmeldung in den Medien und eine Laudatio in den einschlägigen Magazinen. Das wars! Aber bei einem Turnfest mit so vielen Leuten, da ist das Gefahrenpotenzial und die Verantwortung ungleich höher. Auch da kann etwas unberechenbares oder unvorhersehbares geschehen. Aber in diesem Fall WAR es vorhersehbar.
Gruss
Uwe
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 22:41
von Stefan Hörmann
Federwolke hat geschrieben:Stefan Hörmann hat geschrieben:In der heutigen Informationsgesellschaft wird durch eine stetige Überinformation die Abstumpfung (Desinformation) gegenüber Naturgefahren immer stärker und wenn es mal wieder wo kracht wird gleich wieder herumgeplärt, dass man das verhindern hätte können. Am allerlautesten poltern jene, die hinterher dies perfekt hätten verhindern können. Bitte, erinnert Euch an Eure letzte Fehlprognose die nur Dich betroffen hat.
Die Natur gibt und sie nimmt Leben.
Diese fatalistische Haltung, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dem Mittelalter, wundert mich aus der Tastatur eines Wetterdienstleisters doch sehr.
Liebe Fabienne,
ich weiß, dass Du dieser Tag Deine Arbeit als wertlos empfindest. Ich kann das nachvollziehen.
Aber wir sprechen hier im Fall von Biel geradezu von einer Bilderbuch-Warnsituation, bei der kaum ein Wetterdienst etwas falsch machen konnte
Nicht, wirklich nicht? Es gab genug Faktoren die andere und ich aufgezählt haben, die das Szenario hätten verpuffen lassen können! Wie schnell eine Superzelle vertrocknet ist, weiß man doch. Erinnere Dich beim nächsten Flopp, wenn eine der vielen Warnungen nicht das angekündigte Szenario liefert
Im Grunde genommen ist diese Haltung aber ein Schlag ins Gesicht all jener Forscher, die in den letzten Jahren das Wissen über Schwergewitter enorm vorangebracht
Ach, das ist doch Unfug. Keiner bestreitet die enorme Entwicklung (Forschung) und der daraus resultieren Möglichkeiten (Anwendung). Du bist als Wetterdienstler aber (noch) nicht die letzte Instanz in der Anwendung. Die Anwendung obliegt den Verantwortlichen. Jedenfalls bedarf es der Aufarbeitung in der Anwendung von Gefahrenwarnungen und vielleicht kommt es einiges Tages zur Situation, dass die Wetterdienste eine mitentscheidende Instanz sind. Dann aber in voller Mitverantwortung und Haftung, schließlich hat man aufgrund seiner Qualifikation seine Fähigkeiten in de Anwendung belegt.
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 22:43
von Michael ZH
Insgesamt wurde das ganze verschlafen. Bei der diesjährigen Tornadoserie in den USA wurden die Leute ein halbe Stunde bevor die Häuser dem Erdboden gemacht wurden evakuiert. Die Europäer könnten noch viel von den USA lernen was der Umgang mit Naturgefahren angeht. Skywarn lässt grüssen
Gruss Michael
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 23:02
von HB-EDY
aus 20min. Leserbriefe
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74 Kommentare
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Turnerriege GL am 22.06.2013 22:31 Report Diesen Beitrag melden
OK-Verantwortungslos
Totalversagen des OK. Wenn Meteo-CH höchste Sturmwarnung 3 (Gefahr für Leib und Leben) herausgibt, lassen die Herren die Menschen weiter turnen. Die zivil- und strafrechtlichen Folgen werden kommen. Dann können sich die Verantwortlichen warm anziehen oder ihre Turnerhosen runterlassen.
Ed.
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 23:24
von Nigeau
Tschou zäme
Gestern Abend bin vom Turnfest in Biel zurückgekehrt und habe das Unwetter am Donnerstag (20.6.2013) selber erlebt. Unsere Gruppe ist zum Glück schadlos davon gekommen. Unmittelbar bevor das Unwetter über Ipsach zog, haben wir Unterschlupf in einer grossen Schopfbar gefunden. Dank Glück und dem animierten Radar der letzen Stunde.
Ich habe auch gestaunt, dass bei einem Budget von knapp 18 Mio Franken kein Wetterdienst für die Beratung zugezogen wurde. Fränk Hofers Aussage, dass das OK mit der Polizei in Echtzeit die Situation mit Radarbildern und Webcam analysiert habe, kann ich nicht nachvollziehen. Die Polizei hat andere Qualitäten, als das Wetter zu beurteilen. Mit diesen Mitteln kann ich ein Geburifest managen, aber sicher nicht einen Grossanlass wie das ETF.
Das die Wetterwarnung vom Mittwochabend bei Einigen angekommen ist, konnte ich am Donnerstagmorgen in Magglingen selber hören. Da hat einer, der für die Tonanlagen veranwortlich ist, am Natel mit einer anderen Person diskutiert, ob man die Batterien einschalten wolle (für den Fall eines Stromausfalles). Es sei ja für den Verlauf des Tages die Warnstufe 3 draussen.
Das man früher hätte warnen müssen, steht für mich ausser Frage. Wie eine allfällige vorzeitige Evakuation des Wettkampfgeländes in Ipsach hätte ablaufen sollen, das ist ein Thema, das gesondert besprochen werden müsste. Vorschläge in der Art "Über Lautsprecher die Besucher und Wettkämpfer informieren" hätten mit Sicherheit nur einen kleinen Teil der Anwesenden in Ipsach erreicht. Das ist nicht böser Wille der Turnerinnen und Turner, sondern der Umstand wie ein Turnfest, resp. im konkreten Fall der Vereinswettkampf abläuft. Im Gegensatz zu einem Openair-Konzert oder -Theater schauen nicht alle Anwesenden gezielt auf eine Bühne. Über eine grosse Fläche verteilt, finden Dutzende verschiedene Wettkämpfe statt. Rund um die Disziplinenanlage feuert man sich gegenseitig an und hört evtl. das eine Mitteilung über den Lauptsprecher geht, versteht diese im Eifer nicht.
Als Sofortmassnahme für Veranstaltungen in dieser Form sehe ich ein Merkblatt mit den wichtigsten Verhaltensregeln für Unwetter (Starker Regen, Wind, Blitz, Hagel) wie sie Federwolke in diesem Thread beschrieben hat. Man muss sich bei starkem Wind bewusst sein, dass es wohl besser ist gegen den Wind in eine offene Fläche zu gelangen, als mit dem Wind in einen Wald zu flüchten.
Das ein Wetterdienst für ein Fest in dieser Grössenordnung ins Pflichtenheft gehört, scheint mir jetzt ein Muss zu sein. Und manchmal schadet es auch nicht Ideen ausserhalb des gewohnten Umfeldes einzuholen, um der Betriebsblindheit zu entfliehen.
Das OK hat in diesem Fall Fehler gemacht. Man darf aber auch erwähnen, dass es sonst eine "gueti Büetz" abliefert und für viele tausend Turnerinnen und Turner gute Wettkampfanlagen bereit stellt. Und ich bin mir fast sicher, dass die Medien ohne das Unwetter den ersten defekten Festbank aus dem Festzelt auf der Front gehabt hätten und nicht die guten Leistungen der Turner und des OKs.
Nun doch noch einige Worte zum eigentlichen Thema.
Je grösser der Anlass oder die Gruppe, desto kleiner die Eigenverantwortlichkeit. Wenn ich mit meinem Verein draussen im Training bin, gehen wir in die Halle, sobald ein Gewitter aufzieht. Wenn ich am Donnerstag am ETF selber im Wettkampf gewesen wäre, hätte ich als Trainer nicht den Wettkampf unterbrochen und gesagt, das gefällt mir nicht, kommt wir suchen uns einen Schutz. Ich hätte erwartet, dass das OK dann schon schaut und etwas macht. Sollte ich Zukunft etwas ähnliches erleben, muss ich den Wettkampf doch unterbrechen. Mit der Tatsache in der Rangliste weit hinten zu erscheinen, weil ein Resultat fehlt, wenn's denn nicht so schlimm kommt. Damit können aber mein Verein und ich sicher leben.
Nigeau
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 23:35
von Willi
@Nigeau, willkommen im Forum und danke für deinen informativen Einstandsbericht.
Gruss Willi
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: Sa 22. Jun 2013, 23:53
von Chicken3gg
Was mir fehlt: Selbstkritische Töne des OK. ES muss zwingend ein kleiner Teil des Budgets in die meteo. Abteilung investiert werden. Sei dies mit 2 VIP Pässen (z.B. auch OpenAirs) oder professioneller meteorologischer Unterstützung vor Ort (was allerdings deutlich teurer wäre).
Re: Gewitter, werden Gefahren unterschätzt?
Verfasst: So 23. Jun 2013, 00:08
von Peter (Morgarten)
Stefan Hörmann hat geschrieben:Keiner bestreitet die enorme Entwicklung (Forschung) und der daraus resultieren Möglichkeiten (Anwendung). Du bist als Wetterdienstler aber (noch) nicht die letzte Instanz in der Anwendung. Die Anwendung obliegt den Verantwortlichen.
Ja, da hast du recht, die Anwendung obliegt dem Verantwortlichen.
Allerdings erwarte ich von einem Organisator eines solch gewaltigen Outdoor-Anlasses, dass er eine meteorologische Beratung in Anspruch nimmt. Die Kosten dafür sind ja offensichtlich ein Tropfen auf den heissen Stein, verglichen mit dem Gesamtbudget eines solchen Anlasses.
Es gab genug Faktoren die andere und ich aufgezählt haben, die das Szenario hätten verpuffen lassen können! Wie schnell eine Superzelle vertrocknet ist, weiß man doch.
Ich bin zwar kein Experte, vermute aber, dass 30-60 Minuten vor dem tatsächlichen Eintreffen das Risiko eines heftigen Unwetters für das ETF in Biel doch massiv höher war, als die Chance, dass sich die Zelle 10km vor Biel in Luft auflöst oder eine massive Richtungsänderung vollzieht.
Selbst wenn nach einer frühzeitigen Evakuation die Super-Zelle vor Biel vertrocknet wäre, hätte man dem OK (nach den Joran-Erfahrungen) für die unnötige Evakuation wohl kaum einen Strick gedreht.
Für diejenigen, die an die Eigenverantwortung der Leute appellieren (findet zwar vor allem in den Kommentarspalten der Online-Medien statt und nicht hier drin): Dieses Argument kann man ja vielleicht für ein Open-Air noch knapp bringen, da kann zumindest jeder selber entscheiden, wann er sich in Sicherheit bringt. An einem ETF finden Wettkämpfe statt, darunter auch Teamwettkämpfe. Selbst wenn man das Wetter und den Radar beobachten kann, wie schwierig muss in so einem Fall wohl die Entscheidung sein, das Team im Stich zu lassen und einfach aus einem Wettkampf davon zu laufen? Bei so einem Anlass muss man sich doch darauf verlassen können, dass das OK weiss, was es tut.
Insbesondere beim Gedanken daran, wieviele Kinder hier wegen dem grobfahrlässigen Verhalten des OKs einem völlig unnötigen Risiko ausgesetzt (und wohl auch einige davon verletzt) wurden, dreht sich mir der Magen um...