Zitat:
Keine Lust mehr auf Sushi
Von Christoph Neidhart, Nakaminato.
Hafenanlagen, Markthallen und Verarbeitungsbetriebe in den japanischen Katastrophengebieten sind zerstört. Doch auch wer Fische anzubieten hat, bleibt auf seiner Ware sitzen.
Der Fischhändler Morita bettelt beinahe, die wenigen Passanten mögen etwas kaufen. Er führt Gelbschwanzmakrelen aus Aomori, Seeschnecken und Muscheln aus Chiba, nur nichts aus der Gegend.
Normalerweise erwacht der Hafen von Nakaminato vor Morgengrauen: Kutter laufen ein, einer nach dem andern. Ihre Fänge werden auf dem überdeckten Grossmarkt auf der Mole versteigert. An diesem Freitag jedoch bleibt es den ganzen Tag still, an einer Säule lehnt ein halb gekippter Kühlcontainer. Kein Boot läuft aus, einige liegen am Quai, der an einer Stelle eingebrochen und im Wasser versunken ist.Zusammen mit einigen Konkurrenten hat Morita unter einem Vordach einen Fischstand improvisiert. Den wenigen, die etwas kaufen, gewährt er Rabatt. In seinem Laden, einer grossen Halle, hat das grosse Erdbeben den Boden abgesenkt. Jetzt arbeiten dort Maurer, Zimmerleute und Elektriker, wie in den meisten Geschäften am Hafen. Alles muss erneuert werden.
250 Häfen ausgelöscht
Nakaminato, 120 Kilometer nordöstlich von Tokio, ist vom Tsunami wenig zerstört worden. Die schweren Schäden am Hafen und an den Häusern rühren vom Erdbeben. «Aber verglichen mit Tohoku, der Tsunami-Region, war das hier ja glimpflich», meint ein Fischer an der Mole düster: «Wenn nur die Strahlung nicht wäre.»
In der vom Tsunami am schwersten getroffenen Präfektur Miyagi hat die Katastrophe vom 11. März fast alle 253 Häfen ausgelöscht. Mehr als 12'000 der dort registrierten 14'000 Fischerboote sind verloren. Miyagi hat voriges Jahr 384'000 Tonnen Fisch an Land gezogen, im Moment fast nichts. In vielen Buchten gab es Jakobsmuscheln- und Fischzuchten, der Tsunami hat sie alle verschluckt. Die Markthallen hat er weggespült, Verarbeitungsbetriebe und Transportfirmen ebenfalls. Die beiden andern Präfekturen, deren Küste verwüstet wurde, Iwate und Fukushima, haben voriges Jahr 218'000 und 104'000 Tonnen Fisch produziert. Zusammen mit Miyagi sind das 700'000 Tonnen, fast 15 Prozent des japanischen Fischfangs. 2011 wird der grösste Teil davon ausfallen.Nimmt man optimistisch an, dass die Fischerei sich in der zweiten Hälfte des Jahres erholen wird, dann muss man mit 500'000 Tonnen Verlust rechnen: 10 Prozent des japanischen Jahresfangs. Grob geschätzt verursacht das einen Verlust von einer halben Milliarde Euro.
Die Kutter bleiben liegen
Wegen der Verluste der Verarbeiter und Spediteure muss dieser Betrag noch multipliziert werden. Obwohl die Fischerei 2010 nur knapp 1,5 Prozent der japanischen Wirtschaftsleistung ausmachte, wird sich das im Bruttonationalprodukt niederschlagen. Überdies ist es vorerst verboten, entlang dieser Küste zu fischen; das AKW Fukushima hat das Meerwasser kontaminiert. In der Tohoku-Region haben Zehntausende ihre Arbeitsstelle in der Fischerei und den Zubringerbetrieben verloren. Sie fallen jetzt auch als Konsumenten aus. Und noch ist es nicht klar, wie die Fischerei wieder aufgebaut werden kann.
Sie war überaltert und stützte sich auf schlecht bezahlte Gastarbeiter aus China, die mit einem Pro-forma-Ausbildungsvisum in Japan weilten. Nach dem Tsunami sind sie nach Hause zurückgekehrt. Nakaminato liegt in der Präfektur Ibaraki, südlich der vom Tsunami verwüsteten Küste. Hier wären die Verarbeiter und Transporteure in der Lage, den Betrieb wieder aufzunehmen. Am Hafen könnte man improvisieren. Dennoch bleiben die Kutter liegen. «Nicht einmal die Fischerschule darf raus», schimpfen die Männer am Hafen. Seit radioaktiv verstrahlter Sand-Aal entdeckt wurde, mussten die Kooperativen von Nakaminato, Orai, Otsu und Hirakata jeglichen Fischfang stoppen. Nur die Küstenwache fährt hinaus – um Proben zu nehmen. Ibaraki hat voriges Jahr 4 Prozent des japanischen Fisches produziert. Werden auch die Fänge aus Ibaraki für längere Zeit ausfallen?
Fragen um verseuchte Fische
Bisher hat man wenig Kenntnisse über radioaktiv verseuchten Fisch. Man weiss nicht, wie sich radioaktives Cäsium in der Nahrungskette anreichert und wie die Strömung und die Fischwanderungen dieses verbreiten. Japans Behörden versichern, Iod-131 verfalle binnen einiger Monate; die langlebigen Cäsium-Isotope würden nur etwa 50 Tage im Fischkörper verbleiben. Studien nach Tschernobyl hätten das ergeben. Allerdings hat noch nie ein Land mit radioaktivem Cäsium verseuchtes Wasser in solchen Mengen ins Meer abgelassen.
Fisch ist in Japan immer auch Folklore. Und damit Tourismus. Nakaminato lebt nicht nur vom Fisch, sondern auch von den Touristen. «Die Onsen», die japanischen Thermalbäder, «hier in der Gegend sind jetzt alle leer», sagt der Fischer an der Mole. «Und die Restaurants auch.» Bisher seien viele Koreaner nach Ibaraki gekommen. «Jetzt kein einziger mehr.»Japan hat sich in den letzten Jahren bemüht, vermehrt Kultur zu exportieren, auch Esskultur. Dazu gehören Sushi und Sashimi, also roher Fisch. Wegen der Nuklearkatastrophe haben jetzt zahlreiche Staaten, so Brasilien, Singapur und Taiwan, Lebensmittelimporte aus Japan verboten. In andern Ländern bleiben Waren aus Japan in den Läden liegen. Tokio reagiert darauf ziemlich ungehalten. Die Regierung versichert, verstrahlte Lebensmittel kämen nicht in den Handel. Und meint: keine Lebensmittel, deren Strahlenbelastung ihre Grenzwerte überschreiten. Sie erwägt sogar, die internationale Handelsorganisation WTO anzurufen, um die Importstopps anzufechten. Dabei vergisst sie, dass der internationale Strahlenschutz festhält, man sollte die Dosis möglichst niedrig halten. Japans Fischereiexporte dürften sich also, selbst wenn der Fang wieder in Gang kommt, nicht so bald erholen.Der Hafen von Nakaminato und die Halle für die morgendlichen Fischauktionen werden in einigen Wochen instand gestellt sein. Ob dann auch die Radioaktivität aus dem Meer verschwunden sein wird, kann derzeit niemand beantworten. (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 08.05.2011, 20:22 Uhr
___________________________________________
urbi