Jahrhundertereignis/Wiederkehrdauer über 300 Jahre
Verfasst: Fr 26. Aug 2005, 17:45
Und noch was zum Thema aus kompetenter Feder:
[hr]
«Früher waren Extreme lokal begrenzt»
Der Berner Klimahistoriker Christian Pfister erklärt, was am derzeitigen Hochwasser einmalig ist und was es schon gegeben hat
Noch nie war in der Schweiz ein so grosses Gebiet von so heftigen Überschwemmungen betroffen wie jetzt. Dies zeigen die Daten des Berner Umwelthistorikers Christian Pfister. Auch die Schäden haben historische Dimensionen.
«Bund»: Ihre Unwetterstatistiken gehen Jahrhunderte zurück. Wie aussergewöhnlich sind die derzeitigen Überschwemmungen tatsächlich?
Christian Pfister: Schaut man an, wie viele Regionen gleichzeitig betroffen sind, und berücksichtigt man die gefallenen Niederschlagsmengen sowie die Intensität der Schäden, so muss man sagen: Was geschehen ist, ist für den Raum der Alpennordseite einzigartig. Es gab zwar durchaus extremere Situationen, aber die waren jeweils auf ein oder zwei Täler begrenzt.
Und die Wetterlage?
Was wir hier erlebt haben, ist nichts anderes als eine Variante der Vb-Wetterlage, die im Jahr 2002 – etwa zum gleichen Zeitpunkt – Tschechien, Bayern und Sachsen getroffen hat.
Also keine aussergewöhnliche Wettersituation?
Nein. Aber möglicherweise lag die Temperatur der Luftmassen aussergewöhnlich hoch. Ich kann das nicht belegen. Doch während der intensiven Regenfälle betrugen die Temperaturen über 20 Grad, die Luftmasse wirkte tropisch. Warme Luft nimmt mehr Wasserdampf auf und regnet bei Abkühlung stärker ab.
Besteht ein Zusammenhang zwischen diesen hohen Temperaturen und der Tendenz zur globalen Erwärmung?
Es kann sein, dass bestimmte Wetterlagen bei uns heute mit höheren Niederschlagsintensitäten verbunden sind, als das früher der Fall war. Worauf das zurückzuführen ist, müsste man genauer untersuchen. Eine erhebliche Rolle spielt die Temperatur der Ozeane und – in unserem Fall – des Mittelmeers.
Extreme Ereignisse eignen sich schlecht, um langfristige Veränderungen zu dokumentieren – gerade weil sie so selten sind.
Statistisch gesehen ist das tatsächlich so. Doch extreme Wetterereignisse sind möglicherweise Indizien für eine Klimaveränderung, zusammen mit andern Hinweisen. Im neuen, noch nicht veröffentlichten Bericht des internationalen Politikberatungsorgans IPCC wird eindeutig in diese Richtung argumentiert. Und: Jene, die das bestreiten, können ihre Einwände nicht stichhaltig belegen.
Zurück zum aktuellen Hochwasser: Sind für das Mattequartier Überschwemmungen ähnlichen Ausmasses dokumentiert?
Ja. Unter anderem 1480 und 1651 gab es in der Matte vergleichbare Hochwasser. Allerdings standen diese noch stärker als heute im Zusammenhang mit dem Schwemmholz. Damals standen zu seiner Beseitigung noch keine schweren Baumaschinen zur Verfügung.
Schon bald nach dem Auftreten des Unwetters der letzten Tage haben Sie die Schadensumme auf rund zwei Milliarden Franken beziffert. Sind Sie da nicht etwas zu pessimistisch?
Ich stütze mich auf die Gesamtschadensumme der Katastrophen in den vergangenen 200 Jahren, bezogen auf den Geldwert im Jahr 2000. Demnach verursachten die grossen bekannten Hochwasser im Gotthardgebiet, etwa 1868 oder 1987, Kosten von rund 1,4 Milliarden Franken. Heute haben wir eine wesentlich grössere Schadenfläche, und es sind mehr Infrastrukturanlagen betroffen. Also liegt es nahe zu sagen, die Schäden werden höher als 1987 liegen – besonders, wenn man alles einrechnet, auch die Ausfälle von Einnahmen im Tourismus. Kommen die Schäden auf über 1,5 Milliarden Franken zu stehen, sind sie historisch einmalig.
Die Bewältigung der Schäden schafft auch Arbeit. Haben ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit zu Impulsen für die Volkswirtschaft geführt?
Das ist nicht untersucht worden. Beim Wiederaufbau einer Brücke wird zwar Arbeit generiert. Was man aber letztlich hat, ist nur Ersatz für etwas, das schon vor der Katastrophe bestanden hat. Die volkswirtschaftliche Substanz hat dabei nicht zugenommen. Mit demselben Geld hätte man eine zweite Brücke bauen können.
Was hat die Schweiz aus ihren Katastrophen gelernt?
Einmalig für Europa, vielleicht sogar für die ganze Welt, ist die Effizienz des Schweizer Versicherungssystems der kantonalen Gebäudeversicherungen. In Tschechien zum Beispiel hat man Prag nach der Flut von 2002 auch wieder schön aufgebaut. Aber finanziert wurde der Wiederaufbau aus der Staatskasse, und dies hatte budgetneutral zu geschehen, d. h. auf Kosten der Ausgaben für den öffentlichen Verkehr, die Bildung, Gesundheit und Soziales.
Zur Person
Christian Pfister
ist Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Bern. Er untersucht unter anderem, wie Naturkatastrophen in den letzten fünf Jahrhunderten wahrgenommen und gedeutet wurden.
[hr]
Regenreiche Wetterlage
Kurz und bündig fasste Meteo Schweiz am Sonntag, dem 21. August, in ihrem abendlichen Wetterbericht die allgemeine Lage zusammen: «Das Tief über Oberitalien verlagert sein Zentrum zur Adria. Es steuert feuchte Mittelmeerluft über die Ostalpen zur Schweiz. Diese Luftmasse staut sich am Alpennordhang und führt dort zu anhaltenden und ergiebigen Niederschlägen.»
Eine klassische Vb-Wetterlage (fünf b). Deren Name stammt vom deutschen Meteorologen Wilhelm Jakob Van Bebber, der im 19. Jahrhundert die verschiedenen Zugbahnen der Tiefs klassifizierte.
Die Vb-Wetterlage ist bekannt für ergiebige Niederschläge (siehe Grafik). So regnete es in Meiringen vom Sonntag- bis Dienstagmorgen innert 48 Stunden 205 Millimeter pro Quadratmeter, fast 30 Prozent mehr als der bisherige Höchstwert vom 7. März 1896.
Nimmt die Vb-Wetterlage mit der Klimaerwärmung zu? «Diese Frage lässt sich aufgrund der sehr unterschiedlichen Klimamodelle nicht beantworten», sagt der bei Meteo Schweiz tätige Klimatologe Christoph Frei. Nicht allein die Vb-Wetterlage sei zudem für Überschwemmungen verantwortlich. So hätten beim Unwetter in Gondo 2000 und beim Hochwasser im Mai 1999 andere Wetterlagen geherrscht.
«Unheilvolle Vorgeschichte»
Meteo Schweiz betont die «unheilvolle Vorgeschichte» des aktuellen Hochwassers: Der August war nass, die Schneefallgrenze hoch, die Böden waren entsprechend feucht. «Niederschläge allein machen noch keine Hochwasser», sagt auch Dietmar Grebner vom Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich.
Grebner relativiert die Diskussion darüber, ob der Alarm der Wetterdienste im aktuellen Fall schrill genug war. «Wenn die Meteorologen vor starken Niederschlägen warnen, sagt das noch nichts über den Abfluss dieser Niederschläge aus.» (wat)
Der Bund, Interview: Patrick Imhasly [26.08.05]
[hr]
«Früher waren Extreme lokal begrenzt»
Der Berner Klimahistoriker Christian Pfister erklärt, was am derzeitigen Hochwasser einmalig ist und was es schon gegeben hat
Noch nie war in der Schweiz ein so grosses Gebiet von so heftigen Überschwemmungen betroffen wie jetzt. Dies zeigen die Daten des Berner Umwelthistorikers Christian Pfister. Auch die Schäden haben historische Dimensionen.
«Bund»: Ihre Unwetterstatistiken gehen Jahrhunderte zurück. Wie aussergewöhnlich sind die derzeitigen Überschwemmungen tatsächlich?
Christian Pfister: Schaut man an, wie viele Regionen gleichzeitig betroffen sind, und berücksichtigt man die gefallenen Niederschlagsmengen sowie die Intensität der Schäden, so muss man sagen: Was geschehen ist, ist für den Raum der Alpennordseite einzigartig. Es gab zwar durchaus extremere Situationen, aber die waren jeweils auf ein oder zwei Täler begrenzt.
Und die Wetterlage?
Was wir hier erlebt haben, ist nichts anderes als eine Variante der Vb-Wetterlage, die im Jahr 2002 – etwa zum gleichen Zeitpunkt – Tschechien, Bayern und Sachsen getroffen hat.
Also keine aussergewöhnliche Wettersituation?
Nein. Aber möglicherweise lag die Temperatur der Luftmassen aussergewöhnlich hoch. Ich kann das nicht belegen. Doch während der intensiven Regenfälle betrugen die Temperaturen über 20 Grad, die Luftmasse wirkte tropisch. Warme Luft nimmt mehr Wasserdampf auf und regnet bei Abkühlung stärker ab.
Besteht ein Zusammenhang zwischen diesen hohen Temperaturen und der Tendenz zur globalen Erwärmung?
Es kann sein, dass bestimmte Wetterlagen bei uns heute mit höheren Niederschlagsintensitäten verbunden sind, als das früher der Fall war. Worauf das zurückzuführen ist, müsste man genauer untersuchen. Eine erhebliche Rolle spielt die Temperatur der Ozeane und – in unserem Fall – des Mittelmeers.
Extreme Ereignisse eignen sich schlecht, um langfristige Veränderungen zu dokumentieren – gerade weil sie so selten sind.
Statistisch gesehen ist das tatsächlich so. Doch extreme Wetterereignisse sind möglicherweise Indizien für eine Klimaveränderung, zusammen mit andern Hinweisen. Im neuen, noch nicht veröffentlichten Bericht des internationalen Politikberatungsorgans IPCC wird eindeutig in diese Richtung argumentiert. Und: Jene, die das bestreiten, können ihre Einwände nicht stichhaltig belegen.
Zurück zum aktuellen Hochwasser: Sind für das Mattequartier Überschwemmungen ähnlichen Ausmasses dokumentiert?
Ja. Unter anderem 1480 und 1651 gab es in der Matte vergleichbare Hochwasser. Allerdings standen diese noch stärker als heute im Zusammenhang mit dem Schwemmholz. Damals standen zu seiner Beseitigung noch keine schweren Baumaschinen zur Verfügung.
Schon bald nach dem Auftreten des Unwetters der letzten Tage haben Sie die Schadensumme auf rund zwei Milliarden Franken beziffert. Sind Sie da nicht etwas zu pessimistisch?
Ich stütze mich auf die Gesamtschadensumme der Katastrophen in den vergangenen 200 Jahren, bezogen auf den Geldwert im Jahr 2000. Demnach verursachten die grossen bekannten Hochwasser im Gotthardgebiet, etwa 1868 oder 1987, Kosten von rund 1,4 Milliarden Franken. Heute haben wir eine wesentlich grössere Schadenfläche, und es sind mehr Infrastrukturanlagen betroffen. Also liegt es nahe zu sagen, die Schäden werden höher als 1987 liegen – besonders, wenn man alles einrechnet, auch die Ausfälle von Einnahmen im Tourismus. Kommen die Schäden auf über 1,5 Milliarden Franken zu stehen, sind sie historisch einmalig.
Die Bewältigung der Schäden schafft auch Arbeit. Haben ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit zu Impulsen für die Volkswirtschaft geführt?
Das ist nicht untersucht worden. Beim Wiederaufbau einer Brücke wird zwar Arbeit generiert. Was man aber letztlich hat, ist nur Ersatz für etwas, das schon vor der Katastrophe bestanden hat. Die volkswirtschaftliche Substanz hat dabei nicht zugenommen. Mit demselben Geld hätte man eine zweite Brücke bauen können.
Was hat die Schweiz aus ihren Katastrophen gelernt?
Einmalig für Europa, vielleicht sogar für die ganze Welt, ist die Effizienz des Schweizer Versicherungssystems der kantonalen Gebäudeversicherungen. In Tschechien zum Beispiel hat man Prag nach der Flut von 2002 auch wieder schön aufgebaut. Aber finanziert wurde der Wiederaufbau aus der Staatskasse, und dies hatte budgetneutral zu geschehen, d. h. auf Kosten der Ausgaben für den öffentlichen Verkehr, die Bildung, Gesundheit und Soziales.
Zur Person
Christian Pfister
ist Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Bern. Er untersucht unter anderem, wie Naturkatastrophen in den letzten fünf Jahrhunderten wahrgenommen und gedeutet wurden.
[hr]
Regenreiche Wetterlage
Kurz und bündig fasste Meteo Schweiz am Sonntag, dem 21. August, in ihrem abendlichen Wetterbericht die allgemeine Lage zusammen: «Das Tief über Oberitalien verlagert sein Zentrum zur Adria. Es steuert feuchte Mittelmeerluft über die Ostalpen zur Schweiz. Diese Luftmasse staut sich am Alpennordhang und führt dort zu anhaltenden und ergiebigen Niederschlägen.»
Eine klassische Vb-Wetterlage (fünf b). Deren Name stammt vom deutschen Meteorologen Wilhelm Jakob Van Bebber, der im 19. Jahrhundert die verschiedenen Zugbahnen der Tiefs klassifizierte.
Die Vb-Wetterlage ist bekannt für ergiebige Niederschläge (siehe Grafik). So regnete es in Meiringen vom Sonntag- bis Dienstagmorgen innert 48 Stunden 205 Millimeter pro Quadratmeter, fast 30 Prozent mehr als der bisherige Höchstwert vom 7. März 1896.
Nimmt die Vb-Wetterlage mit der Klimaerwärmung zu? «Diese Frage lässt sich aufgrund der sehr unterschiedlichen Klimamodelle nicht beantworten», sagt der bei Meteo Schweiz tätige Klimatologe Christoph Frei. Nicht allein die Vb-Wetterlage sei zudem für Überschwemmungen verantwortlich. So hätten beim Unwetter in Gondo 2000 und beim Hochwasser im Mai 1999 andere Wetterlagen geherrscht.
«Unheilvolle Vorgeschichte»
Meteo Schweiz betont die «unheilvolle Vorgeschichte» des aktuellen Hochwassers: Der August war nass, die Schneefallgrenze hoch, die Böden waren entsprechend feucht. «Niederschläge allein machen noch keine Hochwasser», sagt auch Dietmar Grebner vom Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich.
Grebner relativiert die Diskussion darüber, ob der Alarm der Wetterdienste im aktuellen Fall schrill genug war. «Wenn die Meteorologen vor starken Niederschlägen warnen, sagt das noch nichts über den Abfluss dieser Niederschläge aus.» (wat)
Der Bund, Interview: Patrick Imhasly [26.08.05]